Aktuell entbrandet eine öffentliche Debatte über die „Cablegate“ genannten aktuellen Veröffentlichungen bei Wikileaks. Dort werden geheime, interne Notizen gezeigt, die von Diplomaten und anderen Außendienstmitarbeitern des amerikanischen Außenministeriums verfasst und an das selbige über eine Art Intranet versandt wurden. Erlangtes Wissen wurde übermittelt – sowohl Fakten, als auch Gehörtes und Vermutetes. Auch persönliche Beurteilungen von Situationen und Personen gehören dazu. Flurfunk eben – nur diesmal auf höchstem politischen Level. Und jetzt wo er öffentlich ist, ist das geschriebene sicher nicht besonders angenehm. Weder für die internen Kreise, für die diese Informationen bestimmt waren, noch für deren Absender und genauso wenig für die Personen über die dort geurteilt wurde. Eben genau so unangenehm, wie die Kenntnis darüber sein kann, wenn man erfährt was die Nachbar-Clique so über einen tratscht und denkt.
Das Johari-Fenster
Spannend ist in diesem Zusammenhang eine Übertragung der Geschehnisse auf das Modell des Johari-Fensters (Beschreibung Johari-Fenster bei Wikipedia). Hier ein Auszug:
Das Johari-Fenster ist ein Fenster bewusster und unbewusster Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale zwischen einem Selbst und Anderen oder einer Gruppe. Entwickelt wurde es 1955 von den amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham. Die Vornamen dieser beiden wurden für die Namensgebung herangezogen. Mit Hilfe des Johari-Fensters wird vor allem der so genannte „blinde Fleck“ im Selbstbild eines Menschen illustriert.
Es spielt in der gruppendynamischen Arbeit seit den 1960/70er Jahren eine bedeutsame Rolle zur Demonstration der Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und gehört zum Standardrepertoire gruppendynamischer Modelle und Verfahren. Systematisch gehört es zur differentiellen und Persönlichkeitspsychologie, zu den Abwehrmechanismen, zur Sozialpsychologie und Gruppendynamik.
Das Modell basiert im wesentlichen auf der Annahme, dass es öffentliche und geheime Informationen über Personen gibt. So könnte man den im Johari-Fenster beschriebenen Effekt des Blinden Flecks als eine Abweichung zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung beschreiben. Das bedeutet, Selbstbild und Fremdbild sind selten Deckungsgleich. Und genau das können wir nun bei der Betrachtung der internen Dokumente des US-Außenministeriums erkennen.
So sind die Beurteilungen der Amerikaner über deutsche Politiker für diese selbst vielleicht anmaßend und unangenehm, man hat aber selbst als Bewohner dieses Landes nicht den Eindruck, dass die Urteile wirklich falsch wären. Die mir bislang bekannten Urteile treffen eigentlich ganz gut und passen zu dem Bild, welches ich über die genannten Politiker habe (genannte Zitate in einem TAZ-Artikel).
„Cablegate“ bietet große Chancen für die internationale Diplomatie
Klar, dass die Amerikaner unter der aktuellen Situation in den nächsten Wochen und Monaten leiden werden. Sie mussten durch die Veröffentlichungen sprichwörtlich die Hosen runter lassen. Eine neue Erfahrung für die Supermacht, die aber zugleich die Chance bietet abseits des politischen Schauspiels in vielen Fragen auf der Sachebene weiter zu kommen. So könnten sich manche der nicht so gut beurteilten Personen fragen, ob das nun veröffentlichte nicht vielleicht so etwas wie der eigene Blinde Fleck sein könnte. Verbunden mit der Idee, das man sich daraus weiterentwickelt.
Nehmen wir beispielsweise das Urteil über Herrn Schäuble. Der von den Amerikanern (soweit man hier von der Summe der Amerikaner und nicht von einer Einzelmeinung sprechen kann) beschriebene „zornige alte Mann“ wurde ja gerade erst sehr öffentlich vorgeführt, als der inzwischen ehemalige Ministeriums-Sprecher Offer vor laufenden Kameras zornig und unangemessen abgestraft wurde. Wie ich oben schon schrieb, soweit weg sind die Beurteilungen nicht. Jetzt müsste man schauen, was man daraus macht. Als Politiker, aber vielleicht auch als Wähler.